Gymnastikboys in Thüringen


Auf den Spuren von schillernden Figuren und großen Reformern

Die Gymastikboys haben im Jahr 2019 gleich mehrere runde Jahrestage zu verzeichnen. Die von Karin Franz gegründete und von Elke Schreiber geleitete Abteilung besteht seit vierzig Jahren. Und zum zehnten Mal hat Reiner Tiepelmann die traditionelle Jahresfahrt vorbereitet, organisiert und betreut. Die diesjährige Fahrt vom 11. bis 14. Juli führte die 26 Teilnehmer nach Thüringen und Sachsen-Anhalt. Vor vierzig Jahren – es gab noch die DDR und den Ostblock – war kaum abzusehen, dass man im Jahr 2019 in diesen Teil Deutschlands genauso unproblematisch wie seinerzeit von Kreuztal nach Bayern würde reisen können. Zu verdanken ist das der Maueröffnung, die sich in diesem Jahr bereits zum dreißigsten Mal jährt. Und in manchen Gesprächen der Teilnehmer während der Reise war diese Perspektive auf die Reiseziele immer wieder ein Thema. Denn viele Teilnehmer kannten aus ihrer aktiven Berufszeit oder von privaten Besuchen aus eigenem Erleben die Zustände vor und unmittelbar nach der Wende. Das Programm hat R. Tiepelmann wie immer sehr kurzweilig und mit echten Höhepunkten gespickt zusammengestellt. Die Reise führte nach Erfurt, Apolda, Weimar, Freyburg/Unstrut, Naumburg, Dornburg/Saale und am Tag der Rückreise über Bad Frankenhausen und den Kyffhäuser zurück nach Eichen.

Mit dem Bus von Diehl-Reisen ging es am Donnerstag auf dem Weg zu dem in Apolda gelegenen Quartier zuerst in die Landeshauptstadt des Freistaats Thüringen nach Erfurt, in der u.a. schon der Reformator Martin Luther studiert und gelehrt hat. Viele junge Menschen, die heutzutage in Erfurt studieren, geben der Stadt sichtbar ein modernes und zeitgemäßes Flair. Ausgangspunkt für die Besichtigung der Erfurter Innenstadt war die bewohnte und mit kleinen Geschäften gesäumte Krämerbrücke. Von der Reiseführerin Viola Wehling, die die Gymnastikboys in den nächsten zweieinhalb Tagen begleitet und für sich begeistert hat, erfuhr man auf dem Stadtrundgang interessante historische Hintergründe und unterhaltsame Anekdoten. Dem Stadtbild ist heute noch anzusehen, dass Erfurt einst eine Stadt mit sehr wohlhabenden Bewohnern war. Ein Großteil der Altbausubstanz, die heute den Charme der Altstadt u.a. um die Krämerbrücke ausmacht, wäre allerdings ohne die gerade noch rechtzeitig gekommene Wende der Abrissbirne zum Opfer gefallen. Der lockere Rundgang endete an der Treppe zum imposanten Domberg mit gleich zwei gotischen Stiftskirchen, die man im Anschluss individuell besichtigen konnte.

In der im Weimarer Land liegenden „Glockenstadt“ Apolda angekommen erwartete uns bereits das aufmerksame Personal des „Hotel am Schloss“, das in den folgenden Tagen der Ausgangspunkt für die weiteren Ausflüge war. Die Teilnehmer waren mit ihren Zimmern, der Halbpension und dem freundlichen Service durchweg sehr zufrieden. Auch insoweit trug die im Wesentlichen bereits im vergangenen Jahr abgeschlossene akribische Vorbereitung der Fahrt ihre bewährten Früchte, bei der R. Tiepelmann wieder von seinen „Assistenten“ Kurt Buch und Siegfried Falk unterstützt worden war. Leider war das Wetter nicht dazu angetan, die Abende auf der wunderschönen Außenterrasse zu verbringen. Gleichwohl fanden die Teilnehmer sich wie immer gut gelaunt im Restaurant zusammen, um die Tage nach dem leckeren Abendessen bei dem einen oder anderen „Apoldaer“ aus der ortsansässigen Brauerei gemeinsam ausklingen zu lassen.

Der Freitag war ganz Weimar und Umgebung gewidmet. Zur Stadt von Goethe und Schiller, in der das Bauhaus begründet wurde, und die der ersten Republik in Deutschland ihren Namen gab, braucht man nicht viel Worte zu verlieren. Ein Besuch lohnt sich immer, und sei es nur, um einen lockeren Stadtbummel zu machen oder in einem der vielen Straßencafés zu verweilen. Von einer Anhöhe im Süden Weimars konnten wir nachmittags vom barocken Schloss und Park Belvedere aus bei Kaffee und Kuchen den Ausblick auf die Stadt und das Umland genießen. Hier und während der Busfahrten war erlebbar, dass die weite sanfte Kulturlandschaft nicht grundlos auch als die Thüringische Toskana bezeichnet wird.

Der nächste Tag stand dann zunächst im Zeichen von Rotkäppchen. Nicht die Märchenfigur, sondern die rote Kappe, die den Flaschenverschluss verziert, gab dem Sekt aus der Stadt Freyburg im Weinanbaugebiet Saale/Unstrut seinen Markennamen. Das ursprünglich nur in der ehem. DDR bekannte Getränk hat nach der Wende den Westen Deutschlands erobert. Der Marktanteil liegt in Deutschland heute bei ca. 35 %. Eine der wenigen rühmlichen Ausnahmen, da die meisten anderen Produkte oder Marken, die in der DDR hergestellt wurden, längst in Vergessenheit geraten sind. Der geführte Rundgang durch die historischen Produktionshallen mit anschließender Verkostung, bei der das Prinzip der Flaschengärung im Vordergrund stand, war lehrreich und sehr kurzweilig. Allerdings verdient die Sektkellerei damit heutzutage nicht ihr Geld. Erfolgreich in riesigen Mengen verkauft wird der – in nicht zu besichtigenden Anlagen – industriell hergestellte Schaumwein, der überwiegend aus Weinen, die aus dem europäischen Ausland angeliefert werden, gekeltert wird, und entsprechend preiswert angeboten werden kann. Bevor wir Freyburg/Unstrut hinter uns ließen, statteten wir der dem hier begrabenen „Turnvater Jahn“ gewidmeten Ehrenturnhalle einen kurzen Besuch ab. Lutz Furken würdigte in einer kurzen Ansprache anhand des Wahlspruchs „frisch, fromm, fröhlich, frei“ das Wirken des wegen seiner übersteigerten deutschnationalistischen und rassistischen (antijüdischen) Weltanschauung heutzutage mit kritischer Distanz verehrten Gründers der Turnerbewegung. Zum Abschluss sang man gemeinsam das deutsche Turnerlied „Ich kenn einen Wahlspruch, der Goldes ist wert“.

Mittags führte uns die Reise weiter nach Naumburg/Saale in Sachsen-Anhalt mit dem erst im vergangenen Jahr von der UNESCO zum Weltkulturerbe erhobenen Naumburger Dom. Dieser liegt in der sehenswerten mittelalterlichen Altstadt. Die geführte Besichtigung des Doms war einer der Höhepunkte der diesjährigen Fahrt der Gymnastikboys. Der namentlich nicht bekannte „Naumburger Meister“ mit seiner Werkstatt hat im 13. Jahrhundert in Sandstein gehauene zum Teil überlebensgroße Figuren (darunter die berühmte Uta) und Reliefs erschaffen, die von zeitloser Schönheit sind und auch Betrachter ohne abgeschlossenes Kunststudium in Erstaunen versetzen oder ihnen einfach nur Freude bereiten können. Nicht zufällig lag auf dem von R. Tiepelmann geplanten Rückweg zum Hotel das Städtchen Dornburg an der Saale. Die hier erhaltenen alten Schlösser und Gartenanlagen aus verschiedenen Epochen bilden ein einmaliges Ensemble. Die Teilnehmer genossen es sichtlich, bei sonnigem Wetter vor dem Abendessen noch einmal in den Gärten spazieren gehen zu können und von hier aus dem ungestörten Blick über das reizvolle Saaletal schweifen zu lassen bzw. einfach nur zu relaxen.

Am Sonntag hieß es, die Koffer für die Heimreise zu packen. R. Tiepelmann hat die Reiseroute so gelegt, dass noch ein weiteres Highlight auf der Strecke lag. Der Weg führte in den Norden Thüringens zum Kyffhäusergebirge. Hier, in der Nähe von Bad Frankenhausen, fand vor knapp 500 Jahren eine der letzten großen Schlachten des äußerst blutigen deutschen Bauerkriegs unter Beteiligung des Bauernführers und „Endzeitpropheten“ Thomas Müntzer statt. Dieses Ereignis hat den Maler Prof. Werner Tübke in den Jahren 1976 bis 1987 zu einem Panoramagemälde der Superlative inspiriert. Auftraggeber war die Regierung der DDR. 3.000 Einzelfiguren sind auf einer Leinwand von 14 m Höhe und 123 m Länge abgebildet. Es wird in einer extra dafür gebauten Rotunde präsentiert. Das Werk entstand noch vor der Wende. Anders als man es erwarten würde, handelt es sich bei dem Gemälde nicht um ein DDR-typisches Zeugnis des sogenannten sozialistischen Realismus, sondern um ein vielschichtiges Kunstwerk, das ähnlich der Ausschmückung der sixtinischen Kapelle in Rom eine allegorische Gesamtsicht auf die Menschheit, ihres Werdens und Vergehens, darstellt. Schon heute wird das Werk von Kunstkennern als „Sixtina des Nordens“ bezeichnet. Alle Teilnehmer der Fahrt waren nach der geführten Besichtigung von diesem besonderen Kunstwerk und seiner angemessenen Präsentation tief beeindruckt.

Nach einem Abstecher zum Kyffhäuserdenkmal (Barbarossa und Wilhelm I.) brachte der Busfahrer Stephan Förster die entspannten Teilnehmer nach vier erlebnisreichen Tagen sicher und pünktlich nach Eichen zurück. Im nächsten Jahr planen die Gymnastikboys eine (diesmal) fünftägige Fahrt in das Berchtesgadener und Salzburger Land.

Text: Klaus Jankowski
Fotos: privat

 

 

 

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